Betrifft der aktuell öffentlich beklagte Engpass in der Arzneimittelversorgung auch die Therapie von Menschen mit Asthma? Für die Nutzer von breazyTrack fragen wir Apotheker nach den konkreten Risiken für den kommenden Herbst und Winter. Eines vorab: Hamstern ist keine gute Idee.
„Apotheker warnen vor Arzneimittel-Knappheit — Manchmal steht die Versorgung wirklich auf der Kippe“, titelt die Nachrichtenseite von Spiegel-Online am 14.09. 2023. Täglich seien deutschlandweit rund 1,5 Millionen Menschen von den aktuellen Lieferengpässen betroffen, wenn sie auf ihr Rezept nicht das verordnete Medikament erhalten. Für Menschen mit chronischen Erkrankungen, die auf eine verlässliche regelmäßige Versorgung mit „ihren“ Medikamenten angewiesen sind, ist diese Nachricht Anlass zur Sorge.
Aber auch für die frei verkäuflichen Arzneimittel, die ohne Rezept und Verschreibung durch den Arzt in der Apotheke gekauft werden können, sind vielfach nur eingeschränkt lieferbar. Mit großer Sorge blicken Apotheker und Ärzteschaft auf die anstehende Saison der Erkältungserkrankungen. Für Menschen mit Asthma ist das besonders besorgniserregend, denn sie sind auf die Behandlung zusätzlicher Atemwegsprobleme angewiesen.
In der Apotheke stehen nicht die Verantwortlichen für die Misere, aber hier kennt man die Probleme der Patienten ganz genau — und hält Kontakt zu Pharmagroßhandel und Lieferanten. Die Apothekerverbände werben gegenüber den politisch Verantwortlichen schon seit Monaten für eine verlässliche Medikamentenversorgung. Wir haben bei Herrn Apotheker Marcel Becker von der Stachus-Apotheke in München sowie bei Apotheker Jörg Rott von der Rathaus-Apotheke in Trebur, zwischen Darmstadt und Mainz nachgefragt, was die aktuelle Situation für Menschen mit Asthma bedeutet; ob die Sorge berechtigt ist oder ob sie weiterhin auf eine zuverlässige Versorgung vertrauen können.
breazy-health: Derzeit ist laut Liste des Bundesamtes für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) das Langzeitmedikament Flutide 50 μg nur eingeschränkt lieferbar und auch für generische Akutmedikament Sultanol wird für alle Hersteller ein Lieferengpass gemeldet. Müssen sich Menschen mit Asthma um die Zuverlässigkeit der Arzneimittelversorung sorgen?
Marcel Becker: Wir müssen grundsätzlich zwischen Lieferengpässen, also Knappheiten, und Lieferunfähigkeit, dem dauerhaften Komplettausfall, unterscheiden. Aktuell haben wir Apotheken keine Hinweise darauf, dass es bei den genannten Medikamenten zu einem längerfristigen Komplettausfall kommen wird. Aber Lieferengpässe sind leider auch bei Asthma-Medikamenten Realität. Das heißt, es gibt immer wieder Versorgungsdellen, Phasen, in denen Ware knapp ist. Deshalb rate ich Patientinnen und Patienten, ihren aktuellen Versorgungsstatus genau im Blick zu behalten und Medikamentenvorräte, die zur Neige gehen, nicht erst „in letzter Sekunde“ aufzufüllen.
Jörg Rott: Das ist ein Problem, das nicht nur Asthmatiker betrifft, sondern viele andere Medikamente und damit Patientengruppen ebenfalls. Die Arzneimittelversorgung kostet derzeit Leistungserbringer wie Ärzte und Apotheker und Patienten sehr viele Nerven und Kraft. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Ein wesentlicher ist der überbordende Sparwille von Politik und Krankenkassen.
Für uns Apotheker ist es sehr schwer zu helfen, da wir oftmals trotz vorhandener Möglichkeiten durch Vorschriften gehindert werden, dem Patienten ein passendes, aber nicht verordnetes Mittel mitzugeben. Hier ist dann oftmals noch ein weiterer Gang zum Arzt notwendig, um das Rezept zu ändern.
breazy-health: Lieferengpässe für Arzneimittel gibt es immer wieder mal, doch derzeit scheinen Anzahl und Dauer drastisch anzusteigen. Es trifft nicht nur selten benötigte Spezialpräparate oder saisonal besonders stark nachgefragte Medikamente. Ist das tatsächlich der Fall oder Folge einer fokussierten Berichterstattung?
Marcel Becker: Es ist tatsächlich so: Eine mit der derzeitigen Situation vergleichbare Ausfallquote ist aus den vergangenen 20 Jahren nicht bekannt. Die Situation schwankt zwischen desolat und dramatisch. Eine wesentliche Ursache ist sicher die Corona-Pandemie, die uns gezeigt hat, wie abhängig wir bei Wirkstoffen von Asien sind. Wenn dann globale Lieferketten reißen, haben wir nicht einmal ausreichend Standardmedikamente wie Ibuprofen oder Antibiotika.
breazy-health: Für Lieferengpässe bei Medikamenten gibt es viele Gründe: Knappheit bei Rohstoffen und chemischen Grundstoffen, Produktionsausfälle oder Qualitätsprobleme; global nur wenige Produktionsstätten wodurch sich die Risiken kumulieren und konzentrieren; hohe Preissensibilität sowie Beauftragung billiger Lieferanten mit lückenhafter Lieferfähigkeit; unerwartet hohe Nachfrage; deutscher Markt ist für Hersteller wenig lukrativ und wird nachrangig beliefert. Was ist über die Ursache der aktuellen Lieferschwierigkeiten bei Asthma-Medikamenten bekannt?
Jörg Rott: Genaues ist sehr schwer zu erfahren. Wir sind sehr gut damit gefahren, uns situativ zu kümmern und trotz erschwerender Gesetzgebung und Vorschriften für Patienten flexible Lösungen zu finden. Bisher konnten wir noch jeden Asthmatiker versorgen.
Marcel Becker: Nach den offiziellen Meldungen, die wir Apotheker erhalten, besteht weltweit eine anhaltend hohe Nachfrage auf Grund der Covid 19-Erkrankungen und ihrer Folgen. Diese Nachfrage kann offensichtlich mit den vorhandenen Produktionskapazitäten nicht gedeckt werden. Das ist das, was wir offiziell hören. Aber ich bin überzeugt, dass auch die üblichen Ursachen für Engpässe hier mitspielen, also – wie schon erwähnt – zu wenig Produktion in Europa, brüchige globale Lieferketten und nicht zu vergessen der politisch gewollte, weit überzogene Kostendruck. Der deutsche Arzneimittelmarkt ist in Teilen für Hersteller nicht mehr rentabel!
breazy-health: Das aktuell milde bis warme Spätsommerwetter entlastet Menschen mit Asthma, doch spätestens mit dem nächsten Kälteeinbruch steigt das Risiko für spontane spastische Exazerbationen. Werden die Lieferengpässe bis zum Oktober überwunden sein?
Marcel Becker: Da muss ich erneut auf die offiziellen Verlautbarungen der Behörden und Apothekerverbände verweisen: Demnach werden die Lieferengpässe bis Ende 2023 anhalten, und auch 2024 wird der Bedarf nicht vollständig gedeckt werden können. Einzelne Medikamente sind bis mindestens Ende 2023 von den Herstellern als nicht lieferbar gemeldet. Kurzum, die Lage wird sich in diesem Jahr sicher nicht entspannen, und im nächsten Jahr auch nicht sofort.
breazy-health: Empfehlen Sie Menschen mit Asthma, sich heute einen Vorrat ihrer Medikamente anzulegen? Oder ist zu fürchten, dass sich dadurch die aktuelle Liefersituation unnötig verschärft?
Marcel Becker: Das „Hamstern“ von Medikamenten ist keine Lösung. Im Gegenteil. Im schlimmsten Fall würde die Engpasssituation künstlich verschärft werden. Die im Zweifelsfall dringend oder akut benötigten Medikamente wären dann paradoxerweise vorhanden, aber am falschen Ort. Als Apotheker rate ich vorausschauend zu planen und, wie schon erwähnt, den Medikamentenvorrat rechtzeitig zu ergänzen.
Jörg Rott: Das empfehlen wir auf keinen Fall. Was Panikkäufe bewirken, haben wir — glaube ich — alle in den letzten Jahren während der Corona-Pandemie gesehen. Allerdings bin ich mir nicht so sicher, ob wir es auch verstanden haben.
breazy-health: Der Hersteller GSK (Glaxosmithkline) liefert Sultonol „ab dem 1. August 2023 auch in französischer Kennzeichnung und mit französischer Packungsbeilage“. Für routinierte Patienten wird das kein allzu großes Zusatzrisiko bedeuten. Können Apotheker sicherstellen, dass unerfahrene Patient eine für sie verständliche Medikamenteninformation erhalten?
Jörg Rott: Das ist durchaus ein ernstzunehmendes Thema. Da kann ich nur für uns in der Rats-Apotheke sprechen. Wir stellen durch entsprechende Übersetzungen und vor allem persönliche Erklärungen und Hilfen sicher, dass jeder Patient genau weiß wie sein Arzneimittel anzuwenden ist. Ich gehe stark davon aus, dass es uns die Kollegen gleich tun.
Marcel Becker: Ja, absolut. Die „Standardisierte Einweisung in die korrekte Arzneimittelanwendung und Üben der Inhalationstechnik“ ist eine zugelassene und erstattungsfähige, pharmazeutische Dienstleistung. Apotheken sind demnach sowohl fachlich als auch regulatorisch genau der Ort für entsprechende Informationen. Patientinnen und Patienten können sich daher sicher sein, in ihrer Apotheke vor Ort den richtigen Ansprechpartner zu finden, der ihnen erklärt und zeigt, wie sie ihre Medikamente richtig einnehmen oder anwenden.
Apotheker Marcel Becker, unterstützte seit dem 13. Lebensjahr seinen Vater in der Familien-Apotheke in München. Er studierte von 2006–2008 an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Pharmazie. Nach Tod des Vaters in 2009 wechselte er an die Ludwig-Maximilians-Universität München und erhielt 2014 die Approbation zum Apotheker Schon während des Studiums gründete er 2012 die Apovid GmbH, für online-Kundeninformation in Apotheken.
Apotheker Jörg Rott ist Inhaber der Rathaus-Apotheke im südhessischen Trebur. Mit rund 13.000 Einwohnern ist ist die Gemeinde mit Anschluß zum Rhein eine typische Kleinstadt mit drei Apotheken. Hier ist dem pharmazeutischen Personal der Apotheke die Krankengeschichte der Kunden noch persönlich bekannt.